Mit einem fulminanten dramatischen Höhepunkt ehrten die Theaterkurse des Jahrgangs 12 den Namensgeber des Matthias-Claudius-Gymnasiums. Das gebannte Publikum erlebte in der restlos ausverkauften, zum Theatersaal umfunktionierten MCG-Sporthalle eine thematisch breit gefächerte und vielschichtige, atmosphärisch dichte "Spurensuche", die die Schülerinnen und Schüler entwickelt hatten. Lesen Sie hier die Rezension von Theater-Regisseur Stephan Rumphorst.
Von Stephan Rumphorst
Freitag abend, es ist kalt draußen. Auf dem Dach einer Turnhalle sitzt ein Angler in Eiseskälte. Auf großen Pappen an der Außenwand sind Zitate eines gewissen Matthias Claudius zu lesen, dessen 200. Todestag heute begangen wird. Gemeinsam mit vielen anderen Zuschauern verharre ich in der Kälte und warte auf Einlass in die Turnhalle des MCG, in der das Spektakel stattfinden soll. Es geht los, die Schlange setzt sich in Bewegung, endlich ins Warme. Der junge Angler auf dem Dach tut mir leid! „Das ist Einsatz“, denke ich!
Ich arbeite beruflich als Regisseur und Schauspieler, nicht nur mit Profis, oft auch mit Laien. Aufführungen von bemühtem Schultheater, in denen Lehrer und Schüler sich an großen Stoffen messen wollen und regelmäßig an ihnen scheitern, kenne ich nur zu gut. In den meisten Fällen werden solche Aufführungen trotzdem gerettet durch die Resonanz des wohlwollenden Publikums, das sich darüber freut, die Verwandten, Bekannten und Schulkollegen in ungewöhnlichen Zusammenhängen auf der Bühne zu sehen. Das macht Spaß, auch wenn es künstlerisch mitunter eher fragwürdig ist. Ich kenne heute Abend niemanden auf der Bühne, was mich wohl erwarten wird?
Der Innenraum macht neugierig, viel Technik, Beamer-Installationen, verstreute Requisiten, eine sehr breite Bühne und ein gespanntes Publikum. Es kann losgehen. Ich bin sehr überrascht! Nach knapp anderthalb sehr kurzweiligen Stunden gehe ich berauscht nach Hause! Gesehen habe ich ein Darstellerkollektiv! Schüler, die miteinander (!) spielen, sich einbringen konnten und ihre verschiedensten Talente (Instrumente, Tanz, Filmtechnik, Schauspiel und vieles mehr) gewinnbringend einsetzten. Kein Chaos, sondern eine angespannte, konzentrierte Ruhe zwischen den Szenen, jeder weiß, was wann zu tun ist. Ich sehe rote – vermutlich durch Lehrer – geknüpfte dramaturgische Fäden in der Inszenierung, wunderbar einfache, aber wirkungsvolle choreographische Elemente, die die inhaltlichen Szenen zu ‚Claudius gestern und heute’ verbinden, die vermutlich durch die einzelnen Schülergruppen erarbeitet wurden. Kaum etwas wirkt aufgesetzt, nicht verstanden oder gepresst, alles strahlt Ruhe, Kenntnis und Vermögen aus.
Darstellendes Spiel in der Schule soll Schülern die Möglichkeit geben, sich kreativ zu entfalten, sich zu emanzipieren und zu partizipieren, Ausdruck zu finden und im wahrsten Sinne des Wortes „aufzutreten, um sich zu zeigen“. Dazu braucht es innere Stärke und Bewusstsein für das eigene Tun. Das zu vermitteln – gerade bei dieser hohen Anzahl an Mitwirkenden – ist nicht leicht, in diesem Fall aber mehr als gelungen. Die Schüler sind extrem präsent, selbstbewusst und haben kaum Angst, sich zu zeigen. Die Masse ist zwar schwarz, und doch stechen immer wieder Einzelne heraus, können sich und ihre Kraft, ihre Talente präsentieren und einsetzen. So wie bei Claudius der schwarze Wald schweigend steht, der Nebel aufsteigt und sich als Wunderbares zeigt, steht oder läuft hier eine schwarze Masse an Schülern im Intro und lässt kurze, prägnante Bilder aus dem großen Etwas aufsteigen, Assoziationen zu sich und Claudius, die gleich darauf im schwarzen Wirrwarr wieder verschwinden.
Inhaltlich wird über die Aufführung hinweg ein Bogen geschlagen: Matthias Claudius, der ‚Wandsbecker Bothe’, verortet in seiner damaligen Welt und nachgespürt in der heutigen Welt der aufführenden Schüler. Ich sehe Vielfalt und Toleranz auf der Bühne, verschiedene Kulturen, die zu einer vielschichtigen Gesellschaft werden. Einerseits wird Wissen über den geschichtlichen Claudius vermittelt, anderseits sind es Themen, die ihn scheinbar bewegten: das gesellschaftliche Miteinander, der Tod, die Familie, Wandsbek. Das heutige Wandsbek zeigt sich in dieser Aufführung weltoffen und transparent, neben dem Sezieren des Alltags mit seinen Facetten stehen Poesie, Kultur und Feingeistigkeit, ganz ähnlich wie damals im ‚Wandsbecker Bothen’. Matthias Claudius wird durch viele Personen dargestellt, so wie auch seine Verwandten, sicher ein Kunstgriff, um möglichst viele Schüler einzubinden, aber dadurch wird auch deutlich, dass alle Matthias Claudius sein könnten oder mit ihm verbunden sind. Der Deutsche, wie auch der Sohn der Migranten, Junge wie Mädchen. Anscheinend hat dieser Claudius allen etwas zu sagen, besonders deutlich wird dies in der Szene mit seinem Sohn Johannes, dem er eine Art Vermächtnis übergibt, einen Verhaltenskodex.
Richtig berührend wird es, wenn die Schauspieler_innen mit Migrationshintergrund in ihrer Heimatsprache oder der Sprache ihrer Eltern sprechen, oder auch zum Ende, wenn Claudius, durch die Ballett-Muse gelockt, in die andere Welt hinübergeht. Leider wird es die Veranstaltung wohl nur einmal geben – angesichts des Riesenaufwands sicher schade für Schüler–innen wie Schulleitung, ist diese Aufführung doch eine Visitenkarte für das kulturelle und politische Bewusstsein der jugendlichen Darsteller, der man noch viel mehr Zuschauer gönnt! Einen Glückwunsch an die vielen Darsteller_innen und die Leitung der Gruppe! Das war ein wunderbarer Abend mit vielen berührenden, spannenden, poetischen und humorvollen Augenblicken, die mir Matthias Claudius, aber auch die einzelnen Schüler näher brachten. Der Einsatz des Anglers hat sich gelohnt, mich hat die Aufführung gefangen!